Auf Einladung der Ursulinenschulen stellte der passionierte Soester Historiker Joachim Grade, ehemals Lehrer am Conrad-von-Soest-Gymnasium in Soest, vergangenen Freitag sehr anschaulich den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe bzw. 10. Klasse der Realschule die verschiedenen Etappen der Reformation in der benachbarten Hansestadt vor. Erstaunt war er schon darüber – so Grade am Beginn seines Vortrages – von den katholischen Ursulinenschulen eingeladen zu werden, um etwas über die Reformation in Soest zu erzählen.

„Es kommt mir ein wenig vor, als müsste ich vor der Südkurve des Westfalenstadions vor 24454 Borussenultras etwas über die spielerische Überlegenheit des FC Schalke 04 erzählen…Vor 40 bzw. 50 Jahren sei dies in Werl nicht möglich gewesen. Das war die Zeit- so Grade – in der die Konfessionszugehörigkeit in vielen Bereichen noch die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen beeinflusst hat. Zum Glück haben sich diese Zeiten und mit ihnen die Einstellungen der Menschen geändert. Bevor der Historiker sich dem historischen Geschehen in Soest widmete, stellte er kurz den Schauplatz der Ereignisse den Schülerinnen und Schülern genauer vor und ging der Frage nach, warum Luthers neue Glaubenslehre die Menschen damals so faszinierte.

Soest war im 16. Jahrhundert nach damaligen Maßstäben eine Großstadt mit etwa 10000 Einwohnern und 101 ha Fläche innerhalb der Stadtmauern, Dortmund hatte dagegen nur 81 ha Fläche und 5000 Einwohner. Soest war darüber hinaus das bedeutendste Handelszentrum am Hellweg und vielfach vernetzt mit dem gesamten Hanseraum. Wie ließ sich aber überhaupt die Attraktivität des Luthertums erklären? Zwei Aspekte griff Grade im weiteren Verlauf seines Vortrages dazu kurz auf. Luther war zum einen ein  Medienstar, der mit dem damaligen modernsten Massenkommunikationsmittel sozusagen „getwittert“ hat: dem Buchdruck mit beweglichen Lettern. Gedruckte Texte vornehmlich in deutscher Sprache, Bilder und Stiche konnten Dank Johannes Gutenberg als Massenware unter die Leute gebracht werden. Damit fanden Luthers Ideen eine rasche Verbreitung. Der Reformationsmaler Lucas Cranach – hebt Grade hervor – hat mit seinen Lutherporträts ebenfalls zur Popularität des Reformators beigetragen und die Reformationstheologie visualisiert. Viel bedeutender als die mediale Vermittlung der reformatorischen Botschaft war nach Grade aber Luthers Antwort auf die Frage, ob es einen gnädigen Gott gibt. Die Furcht vor der ewigen Verdammnis in der Hölle oder einer langen Aufenthaltszeit im Fegefeuer führte zu einer ausgeprägten Angstfrömmigkeit unter den Menschen, die den Kauf von Ablassbriefen zur Folge hatte. Luthers Antwort, dass die Gnade Gottes ohne Vorbedingung, ohne Beichte, ohne gute Werke, sondern allein aus dem Glauben an einen gnädigen Gott erlangt werden kann, führte dazu, dass die Kirche als Vermittlungsinstanz wegfiel und der Mensch somit allein vor Gott steht. Die heutigen Menschen dagegen stellen laut Grade in der Regel nicht mehr die Frage nach einem gnädigen Gott. Im wissenschaftlichen technischen und  durch die Aufklärung geprägten Zeitalter hat vielmehr eine Individualisierung der Religion eingesetzt, die die Gefahr einer Art Selbstvergottung in sich trägt. Oftmals sucht „das Ich“ woanders die Restportion an Transzendenz, die es noch braucht – z.B. in der Selbstoptimierung, in der „Religionsboutique“ oder im Fitnessstudio.

Die reformatorischen Ideen – so Grade -  erreichten Soest nun ab 1524. In den Protokollbüchern des Rates lässt sich nachweisen, dass es hier schon viele Anhänger der lutherischen Lehre gab. Vor dem 21.12.1531, dem sog. Thomastag, an dem es zur Durchsetzung der Reformation in Soest kam, gab es im Juli 1531 Unruhen. Sie waren vor allem ein Protest gegen ökonomische und rechtliche Privilegien von Geistlichen und dem Walburgis-Stift Soest. Auslöser dieser Unruhen war das Verschwinden der Alten Schrae, ein Rechtsbuch, das jedes Jahr der Soester Bürgerschaft öffentlich vorgelesen werden musste. Ein Rechtsakt, der den Bürgern ihre Recht in Erinnerung rief. Neun von zehn der ersten Zusatzartikel – so der Historiker – richteten sich gegen die wirtschaftlichen und sozialen Privilegien der Geistlichen. Der Mann, der in Soest die Reformation schließlich ausgelöst hat, war Thomas Borchwede – der „Luther Soests“. Er war Hauptprediger an der Petri-Kirche und hatte deshalb großen Einfluss auf den Glauben der Soester Christen. Ab dem Herbst 1531 predigte Borchwede in St. Petri im evangelischen Sinn und brachte am 14.9.1531 am Pranger auf dem Markt zwei Gedichte gegen den Ablass und zwei Ablassbriefe an. Am 20.11. 1531 erfolgte der „Thesenanschlag“ Borchwedes an der Tür von St. Patrokli. Der Thomas-Aufstand vom 21.12.1531 nach der Verhaftung des evangelischen Predigers Johann von Campen in der Paulikirche durch den Rat der Stadt Soest führte dazu, dass die Soester Bürger sich mit vier Schützenkompanien und ca. 4000 Männern auf dem Petrikirchhof versammelten und von Campen befreiten. Der Rat musste aufgeben und die Reformation in Soest einführen. Gerhard Oemeken gab im April 1532 der neuen evangelischen Kirche eine schriftliche Verfassung: die Soester Kirchenordnung. Natürlich gab es in den folgenden Jahren noch häufig interkonfessionelle Konflikte und Aufstände wie den Laetare-Aufstand am 23.3. 1533. Ab dem Sommer 1533 verlief die religiös – politische Entwicklung in Soest aber in ruhigeren Bahnen, kirchliche und politische Probleme und Konflikte konnten erfolgreich ohne innerstädtische Unruhen gelöst werden. Zwischen 1544 und 1547 bedrohten kaiserliche Truppen Soest, um die Stadt zu rekatholisieren, die katholische Messe wurde wieder eingeführt. Allerdings leisteten die Soester immer wieder dagegen massiven Widerstand und sangen in den Gassen ihrer Stadt Kirchenlieder von Luther. Auf Grund der Schwächung der Macht Karls V. ab 1551 konnte sich der evangelische Glaube wieder in Soest und seinen Kirchen durchsetzen. Soest wurde eine evangelischde Stadt und hat die katholischen Gläubigen zunehmend diffamiert und diskriminiert. So war bis 1797 am Turm des Archigymnasiums, das aus der Reformation hervorgegangen ist, zu lesen: „Erhalt uns Herr bei deinem Wort Und steur´des Papst und Türken Mord. 

Heute – so resümiert Joachim Grade am Ende seines Vortrages - ist Soest keine evangelische Stadt mehr. Durch den Zuzug der Vertriebenen nach 1945, meist katholische Schlesier, der türkischen „Gastarbeiter“ ab den 60er Jahren, der EU-Bürger, Asylsuchenden und Flüchtlingen seit den 90er Jahren des 20.Jahrhunderts bis heute ist Soest eine multiethnische und multireligiöse Stadt geworden. Die Mitgliederzahlen der beiden großen christlichen Kirchen gehen allerdings zurück. Das konfessionelle Zeitalter – so Grade – ist vorbei. Beide Konfessionen bemühen sich in der Kreisstadt um eine Ökumene, die sich in Ansätzen auch entfaltet. Die lange Dauer der Reformation mit all ihren Religionskonflikten zwischen Christen – unterstreicht der Soester Historiker – ist gerade heute ein Beispiel dafür, wieviel Zeit vergehen muss bis ein „friedliches, von echter Toleranz geprägtes Zusammenleben zwischen den Konfessionen, aber auch Religionen Normalität wird“.

 

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